Dieser Moment ist genug

Der Herbst ist da. Was für eine Zeit. Aber so vergänglich. So schnell vorbei. Zumindest diese wundervolle Übergangszeit, in der viele Bäume die schönsten Kleider des Jahres tragen. Warum tun sie das nicht länger? Das reicht mir nicht. Es ist nicht genug.

Das Foto habe ich vor ein paar Tagen im Stadtpark gemacht. Dieser Baum hat mich verzaubert. Er hat mich wie ein Magnet angezogen. Diese Schönheit. Perfekt. Kein Baum weit und breit war auch nur annähernd so schön.

Instinktiv kam das Bedürfnis in mir hoch, diesen Moment festzuhalten. Ihn zu teilen. Ich habe sofort an meine Liebste gedacht. Wie gern hätte ich sie dabei gehabt, ihr aufgeregt auf die Schulter getippt, um dieses vergängliche Ereignis mit ihr zu teilen. Aber sie war nicht da. Der Moment glitt mir durch die Finger.

Obwohl ich das Foto noch machte, war das eine Lehre für mich. Offenbar war dieser Moment nicht genug für mich. Nicht einmal, ihn doch noch per Foto festzuhalten (ein Video wollte ich auch noch machen). Ich brauchte eine Sekunde, um es zu realisieren: Dieser Moment war genug.

Er ist genug, selbst ohne Foto. Ohne die Liebste. Ohne Video. Wunderschön, einzigartig, vergänglich und genug.

Ja, sharing is caring. Ja, ich teile gern. Dinge bekommen für mich manchmal erst eine Bedeutung, wenn ich sie teile. Ich liebe es, zu teilen. Es erfüllt mich. Aber auch ohne das sollte es genug sein. Sollte ich genug sein.

Ich bin nicht alleine mit diesem Gefühl. Dieses Gefühl, dass ein Moment nicht komplett ist, ohne ihn zu teilen. Das man selbst nicht komplett, nicht genug ist.

Dieses Gefühl des nicht genug seins kann unser ganzes Leben beherrschen:

  • Wir essen etwas und schauen parallel durch unseren Facebook-Stream. Als ob essen nicht genug wäre.
  • Wir sind genervt, wenn Menschen sich nicht so verhalten, wie wir uns das vorstellen. Ihr Verhalten fühlt sich nicht genug an.
  • Wir fühlen uns verloren und orientierungslos im Leben. Als wäre unser jetziges Leben noch nicht schon genug.
  • Wir prokrastinieren bei wichtiger Arbeit und suchen nach Ablenkung. Als sei die Arbeit nicht genug.
  • Wir verlieren uns in Verlusten, in der Vergangenheit, bedauern verschwundene Traditionen. Als wäre die Gegenwart nicht genug.
  • Wir versuchen andauernd, uns oder andere zu verbessern. Als wären wir und andere nicht schon genug.
  • Wir streben Perfektion an, um festzustellen, dass es sie nicht gibt. Als wäre das Ergebnis nicht jetzt schon gut genug.
  • Wir lehnen Möglichkeiten, andere Menschen, uns selber ab. Weil wir denken, sie seien nicht genug.

Was wäre, wenn wir diesen wertvollen Moment, diese Menschen, dieses Ergebnis einfach mal als absolut ausreichend, als genug akzeptieren würden?

Was, wenn wir nicht mehr bräuchten?

Was, wenn wir akzeptieren würden, dass Vergänglichkeit gut ist, der Moment seine Zeit hat und dann vorbei ist. Ohne ihn immer zu teilen, festzuhalten, verbessern zu wollen.

Was, wenn wir JA zu Dingen sagen, anstatt sie abzulehnen?

Was, wenn wir Schlechtes und Gutes akzeptieren, Scheitern im Zuge von Versuchen, das Seltsame und das Schöne, die Angst im Zusammenhang mit der Möglichkeit – als eine Art Deal, ein Paket, dass uns der Moment anbietet?

Lasst uns pausieren, umsehen und in diesem Moment für alles um uns herum (inklusive uns selber) dankbar sein und es so sehen, wie es ist: genug.

4 Kommentare
  1. Magdalena
    Magdalena sagte:

    Happiness is only real, when shared. (Into the Wild) Ein sehr starker Satz, der mir oft im Leben, im Herzen aufleuchtete, wenn es mir so erging wie oben beschrieben. Momente die wir erleben dürfen und die so wundervoll und zauberhaft sind, das wir sie gerne mit jemanden, einer bestimmten Person, teilen möchten. „Glück ist nur echt, wenn man es teilt“ ist oft stimmig für mich! Auch wenn wir im All/EinSein, immer verbunden sind! Vielleicht kann man so mehr Zufriedenheit finden.

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    • Jan
      Jan sagte:

      Liebe Magdalena. Bitte entschuldige die späte Antwort. Und danke für deinen schönen Kommentar. Into the Wild ist ein so inspirierender Film. Ich habe ihn mir gerade erst vor ein paar Tagen wieder vorgenommen, noch einmal zu sehen. Diese Sehnsucht nach Freiheit. Nach Erlösung. Und dann die Erkenntnis, dass das wahre menschliche Glück zumindest langfristig nur im Teilen des eigenen mit anderen liegt. Denke ich zumindest…

      Unabhängig davon genügen wir aber. Auch ohne jemand anderen (aus Prinzip). Ich habe für mich festgestellt, dass ich erst dorthin kommen möchte. Zur inneren Zufriedenheit mit mir. Alleine. Dann macht das Teilen noch mehr Spaß.

      🙂

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  2. Nadine
    Nadine sagte:

    Lieber Jan, sehr schöner und kraftvoller Artikel! Ich war gerade beim Mittagessen, als ich begann, mir „nebenbei“ deinen Blog anzusehen. Die Stelle „Wir essen etwas und schauen parallel durch unseren Facebook-Stream. Als ob essen nicht genug wäre.“, ließ mich mein Notebook erstmal wieder zuklappen, ein Lächeln auf mein Gesicht zaubern, an Eckart Tolles „Die Kraft der Gegenwart“ denken und mein Essen bewusst genießen. Nun genieße ich wiederum den Moment mit deinem Artikel 😉 Mir fällt dazu etwas ein, das ich erst diese Woche gehört habe: Nämlich, wie wichtig es ist, den Menschen in seinem Leben immer wieder zu sagen, dass sie genug seien, sich selbst natürlich eingeschlossen! Danke!

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    • Jan
      Jan sagte:

      Hallo liebe Nadine. Danke für deinen schönen Kommentar. Es ist immer wieder erstaunlich, wie oft wir doch an das Offensichtliche erinnert werden müssen, oder? An fehlender Information liegt es heutzutage ja nun wahrlich nicht… Ich erwische mich auch ständig in solchen Situationen. Aber auch da passt dein letzter Satz so wunderbar: Auch dann sind wir genug, wenn wir es wieder nicht hinbekommen, uns nur auf eine Sache konzentrieren. Ich glaube, je weniger wir uns und andere verurteilen, desto schöner kann das Leben sein. Ich danke dir! 🙂

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